Kategorien
Antifa-Roman

47 | Frolic

Insgesamt benötigen sie 18 Leute für die Plakataktion. Wenn alle aus der Schüler-Antifa, die Sechserbande und vielleicht noch ein paar von Mîrhats Leuten mitmachen, sollte das kein Problem sein. Der nächste Mittwoch versprach, ein spannendes Treffen zu werden. Aber bis dahin bleibt noch viel zu tun. Diesmal vor allem für Stefan. Er trifft sich mehrfach mit Rainer wegen des Plakatlayouts, recherchiert mit dem neu gekauften Laptop Fakten im Internet und überprüft alle Wohnadressen. „Lahmes Ding“ mault Rainer immer wieder. „Für einmal und dann auf den Müll reicht es“, sagt Stefan dann jedes Mal.

Vera und Marlene kümmern sich um den Kontakt zu den Antifas. Es ist zäh. Misstrauen schlägt ihnen entgegen.

„Wir wollen ja nur ein paar Bilder haben, die Namen stehen hier auf dem Zettel“, sagt Vera zu einem jungen Typen mit Mob-Action-Hoody. Erst als die Mädchen ihnen die Liste mit Namen überlassen, stellen sie den Kontakt zu einem altgedienten Antifaschisten her. „Frolic weiß alles. Den könnt ihr fragen. Wenn der keine Fotos hat, gibt es keine.“

Mit Frolic verabreden sich die beiden Mädchen in einer Kneipe in Schierstein.

Er ist bereits da, als sie ankommen. Die Bar ist fast leer. Alle anderen Gäste sitzen am Tresen. Frolic wartet an einem Tisch außer Hörweite, auf dem ein alkoholfreies Bier steht. Sie erkennen ihn sofort. Er trägt eine verwaschene dunkle Jeans, ein T-Shirt mit Totenkopf-Motiv und schwarze Turnschuhe. Auf der Stuhllehne hängt ein abgespecktes Bayern-Janker. Die Haare sind blondiert, das blasse Gesicht unrasiert und seine blauen Augen blitzen vor Lebensfreude. Sein linkes Ohr ist gespickt mit Ringen, auf einem Arm leuchtet ein schlecht gestochenes Tattoo mit dem Schriftzug „Scheiß Bullen!“ Es sieht aus, wie das Ergebnis einer durchzechten Nacht. Die Mädchen schätzen ihn auf Ende 40.

„Hi“, grüßt er freundlich. „Ich bin Frolic.“

„Ich bin Vera und das ist Marlene.“

„Aha. Und sonst noch?“

„Wie meinst du das?“

„Ihr seid doch nicht allein, oder? Ihr gehört doch zu einer Gruppe oder Organisation?“

Die Mädchen schauen sich an.

Vera beginnt: „Äh nein. Oder doch.“

„Wir sind eine Schüler-Antifa ohne Namen“, erklärt Marlene. „Wir haben Stress mit Nazis, da haben wir uns gegründet.“

„Okay. Ich habe gehört, ihr braucht Fotos“, beginnt Frolic direkt. Er kommt immer gerne gleich zur Sache. „Ich habe mir eure Liste mal angesehen. Das sind nicht die üblichen Nasen oder Doof-Skins. Das sind kaum bekannte Kameraden, die eher in der zweiten Reihe stehen und deshalb umso gefährlicher sein können.“

Vera und Marlene wechseln einen erschrockenen Blick.

„Ich weiß, dass man das nicht fragen sollte, aber wo habt ihr die Namen her? Da stolpert man als neugegründete Schul-Antifa nicht sofort drüber.“

Er nippt an seinem Bier.

„Was wollt ihr eigentlich trinken?“

„Wasser.“

„O-Saft.“

Frolic bestellt.

„Das können wir dir nicht sagen“, antwortet Vera ausweichend.

„Das verstehe ich. Aber habt ihr überhaupt eine Ahnung, auf was ihr euch da einlasst? Lasst uns mit offenen Karten spielen. Ihr seid jung und könnt, so wie meine Kumpels und ich, diese Nazipest nicht leiden. Das verbindet uns. Aber als erfahrener Alt-Antifa muss ich euch auch warnen. Denn vielleicht habt ihr was vor, was für euch in der Folge zu krass werden könnte.“

Er schaut sie väterlich an. Nichts an ihm wirkt arrogant oder überheblich. Seine Sorge ist echt.

„Sagen wir es mal so“, beginnt Marlene. Vera erkennt leichte Unsicherheit in ihrer Stimme, doch außer ihr nimmt das niemand wahr, im Gegenteil. Sie ist die fleischgewordene Coolness, mit allen Wassern gewaschen. Sie beugt sich zu Frolic. „Wir waren auf Raubzug. Wir haben Beute gemacht. Datenschätze. Digitaler Piratenkrieg. Gekaperte Nazifestungen. Und nun wollen wir den Scheiß-Nazis mal einen Schreck einjagen, vor ihrem verdammten Aufmarsch. Jeder in der Stadt soll wissen, wo die braunen Ratten leben.“

Frolic rückt ein Stück nach hinten. „Finde ich ja super. Aber passt auf. Ehrlich jetzt!“

„Wir wollen sie nur bekannt machen, nicht angreifen. Das können wir gar nicht“, gesteht Vera.

„Eine Outing-Aktion?“, fragt Frolic. „Gute Sache!“ Er kratzt sich am Kopf. „Alt, aber gut!“

Die beiden Mädchen antworten nicht.

„Bis wann braucht ihr die Fotos?“

„So schnell es geht“, sagt Vera.

„Habt ihr eine cleane E-Mail-Adresse?“

„Ja, ich habe mir mal so eine E-Mail mit falschem Namen zugelegt“, antwortet Marlene.

„Schon mal von daheim benutzt?“, will Frolic wissen.

„Ja, klar.“ Warum soll sich die Königin der Freibeuter verstecken? Marlene lächelt überheblich.

„Okay, dann vergiss die Adresse.“

Marlene knallt auf die Planken ihres Piratenschiffs.

„Wieso?“

„Weil nun jeder Geheimdienst weiß, wer dahinter steckt. Über die IP. Hol‘ dir eine neue. Benutze die dann nur von einem Internetcafé aus oder von einem sauberen Tablet und über ein öffentliches WLAN. Und nach getaner Arbeit – weg damit!“

Marlene schaut ihn fragend an. Die barocke Freibeuterdiva sitzt geerdet als hilfloser Smutje im Kiel ihres Schiffswracks.

„Was?“

Frolic hebt nur eine Augenbraue. „Willkommen im Überwachungsstaat. Darf ich zum Tanz der Eingeweihten bitte? Folgen Sie mir doch jetzt bitte in die Welt der Daten und Netze.“

Marlene strahlt ihn an. Elegant hat er ihr gerade ihre Überheblichkeit verziehen. Ein wirklich netter Punker, denkt sie.

Dann erklärt er. „Also, ihr geht in ein Internetcafé und holt euch bei einem Provider eine E-Mail-Adresse. Dazu benötigt ihr meist eine echte Postadresse, weil das bei der Registrierung abgefragt wird. Besorgt euch also vorher eine Adresse in irgendeiner fernen Stadt. Von der E-Mail-Adresse könnt ihr nun Sachen mailen und empfangen. Aber auch diese Provider werden zu 100 % überwacht. NSA, BND, BKA und diese ganzen Idioten. Verschlüsselung wird da angeboten, ist einfach, aber unsicher. Hilft höchstens gegen Nazis.“

Frolic schaut die beiden an. Sie nicken.

„Damit der nächste Besucher nicht alles im Browser im Internetcafé lesen kann, was ihr gemacht habt, müsst ihr nach jeder Sitzung den Cache – den Zwischenspeicher – des Browsers leeren. Das ist bei Edge in den Einstellungen Datenschutz, Suche und Dienste. Bei anderen Browsern gibt es das auch. Bei Firefox kann man die Chronik ausschalten. Um sicherzugehen, macht ihr nach der Sitzung einmal den PC aus und wieder an. Manchmal fährt der PC dann nicht mehr hoch und der Besitzer des Cafés meckert … Ihr müsst auch wissen, dass die meisten Internetcafés mittlerweile alle Besucher aufzeichnen. Also solltet ihr hier in Wiesbaden nichts machen, was zu heikel ist. Immer schön eine andere Stadt aufsuchen, sich etwas verkleiden und einen zeitlich möglichst langen Puffer zwischen Aktion und Internetcafé-Nutzung einbauen. Dann seid ihr schon ein bisschen geschützter.“

„Danke“, sagt Marlene, „das war hilfreich.“

So redet René auch immer. Aber das von Frolic habe ich jetzt technisch nicht verstanden. Das muss ich mir unbedingt nochmal von René erklären lassen. Als Computerexperte kennt der sich ja aus.

„Aber trotzdem möchte ich von euch lieber gar keine Mails bekommen, das ist mir als Sicherheitsfanatiker zu unsicher. Die ganzen Geheimdienste hören jeden Scheiß im Internet ab, die saugen sich alles in ihre Megarechner wie eine gigantische Datenkrake. Und dort ist es dann für die Ewigkeit gespeichert.“

Die beiden sehen ihn fragend an.

„Lasst uns besser einen USB-Stick von Hand zu Hand geben. Und die Daten am besten irgendwie verschlüsseln. Von mir aus auch ein ZIP-File mit Passwort. Das ist besser als nichts, das können dann zwar die Bullen lesen, aber die Nazis nicht sofort.“

Er lacht.

„Aber das geben die Bullen denen ja dann später sowieso.“

„Äh, wie?“, fragt Marlene.

„Viele Nazis sind Bullen. Oder besser gesagt bezahlte Spitzel. Und bei den Bullen gibt es viele, die mit der AfD und dem ganzen rechten Pack sympathisieren. Wer Ordnung und Sauberkeit liebt, mag es meist auch kleingeistig und ist eher rechts. Der deutsche Gartenzwerg liebt das Gewohnte, er hasst Änderungen oder gar Neues. Nie würde er etwas anderes tragen als seine rote Zipfelmütze.“

Frolic unterbricht seinen Monolog. Er merkt, dass die beiden ihm nicht folgen können.

„Okay, schon gut. Jetzt meine Fangfrage: Habt ihr Handys dabei?“

„Nein!“, antworten beide im Chor.

„Sehr gut. Lasst uns morgen hier nochmal treffen, dann tauschen wir die Fotos aus. Okay?!“

Vera und Marlene nicken.

„Darf ich euch nochmal was fragen? Ihr seid ganz schön jung und ziemlich gut informiert. Und ihr seid offenbar sehr entschlossen. Habt ihr euch das denn auch alles gut überlegt? Habt ihr mal nachgedacht, was passiert, wenn die Nazis euch erwischen? Oder ihr im Knast landet?“

„Ja“, sagt Vera. Sie will Selbstbewusstsein demonstrieren vor dem Antifa-Profi.

„So richtig?“, insistiert Frolic weiter. „Ihr spielt da echt mit eurem Leben! Nazis sind Killer. Wenn die einen von euch kriegen, dann könnt ihr froh sein, wenn ihr das überlebt! Habt ihr das im Kopf?“

„Das wissen wir“, sagt Marlene. „Aber was sollen wir denn machen?“

„Aufpassen. Euch nicht zu sehr nach außen zeigen. Keine Namen bei Insta, keine Fotos, kein Gelaber! Lasst keine Rückschlüsse auf euch zu.“

„Aber wie soll das gehen? Wenn uns niemand kennt und niemand sieht, dann können wir doch auch nie andere aus unserer Schule mobilisieren“, wirft Marlene ein.

„Das ist ein echtes Problem.“ Frolic dreht sein Bierglas auf dem Deckel. Es ist noch immer halbvoll.

„Wir haben uns schon etwas aufgeteilt. Nur zwei von uns treten bisher nach außen auf, nie die ganze Gruppe“, ergänzt Vera.

„Das ist schon mal gut“, sagt Frolic. „Ihr müsst wissen, dass Nazis im Kern feige sind. Für euch gibt es eigentlich nur einen Schutz: Gewalt und Angst. Ich weiß, dass das doof klingt, ist aber so. Wenn die etwas tun und ihr sofort zurückschlagen könnt, dann bekommen die Respekt und werden vorsichtiger. Das ist typisch für die Wichser. Bei Gegenwind knicken die schnell ein. Deshalb treten sie auch am liebsten auf Wehrlose ein, die schon am Boden liegen oder jagen Flüchtlinge, die in Deutschland ja sowieso so was wie Freiwild sind.“

„Das sagt Stefan auch“, stellt Marlene fest, „fast wortgleich!“

„Keine Namen!“, sagt Frolic, und lächelt Marlene an. „Siehst du, so schnell kann es mit einer Information gehen, die den Nazis nützen könnte! Oder den Bullen.“

„Wehren können wir uns aber schon ein bisschen“, sagt Vera zögerlich. „Wir sind schon ein paar Mal mit denen aneinandergeraten …“

„Aha“, sagt Frolic. „Interessant! Könnte es zufällig sein, dass dabei ein paar Fahrzeuge Feuer gefangen haben?“

Marlene und Vera sehen sich an.

Frolic lacht.

Volltreffer, denkt er.

„Ihr müsst nicht antworten, ich will das gar nicht wissen“, sagt er. „Oder anders ausgedrückt: Nun weiß ich es ja …“

Er blickt ihnen direkt in die Augen und wird ernst.

„Wir haben über unsere Kanäle mitbekommen, dass die ganz schön in Aufruhr sind. Es müssen ein paar Sachen vorgefallen sein, die ihnen nicht gefallen haben! Und sie verstehen nicht, was los ist. Wir allerdings auch nicht …“

„Na und?“, sagt Vera schnippisch. „Ihr könnt vielleicht nicht alles verstehen, weil ihr eben nicht alles wisst.“

„Ja ja“, sagt Frolic beschwichtigend, „macht ja auch nichts. Aber vielleicht kann ich euch mit meinen Leuten ja mal zur Seite stehen, wenn ihr Hilfe oder Unterstützung braucht. Aber ich gebe euch einen Tipp: Haltet euch an mich. Geht nicht zu den anderen Alten. Die meisten, gerade die in meinem Alter, sind nur Maulhelden. Wer heute plötzlich alles schon seit Jahrzehnten aktiver Antifaschist gewesen sein will … unfassbar!“

Er kratzt sich gedankenverloren am Kopf.

„Am Ende sind es doch nur alte Männer, die Jüngere beeindrucken wollen. Wer im Café Matsch laut mit seinen Heldentaten prahlt, war vermutlich nie wirklich dabei. So was macht man nicht. Passt diesbezüglich also auf. Solche Leute waren und sind gefährlich!“

Marlene und Vera sitzen Frolic mit offenem Mund gegenüber. Es dauert ein paar Augenblicke, bis er es bemerkt.

„Oh, Sorry. Das ist nur meine persönliche Aversion gegen die Großmäuler in der Szene. Manchmal ist es einfach nur peinlich, mit was für Lügengeschichten meinesgleichen daherkommen. Aber zurück zum Thema. Kommt einfach zu mir, wenn was ist. Okay?“

Die beiden nicken. Frolic gibt ihnen seine Handynummer. „Aber nur das notwendigste sprechen. Ort, Datum, Uhrzeit. Kein Wort zu viel!“

Er übernimmt die Rechnung. Bevor er sich verabschiedet, sagt er noch: „Wir sammeln übrigens seit Jahrzehnten Nazidaten. Wenn ihr was braucht, fragt. Toll wäre es umgekehrt, wenn ihr uns einfach auch Daten oder Material geben könntet.“

Dann schaut er die Mädchen noch einmal sehr durchdringend an.

„Und bitte vergesst nicht: Ärger mit Nazis ist kein Spaß! Die verkrüppeln und töten euch, wenn sie können. Die kennen keine Gnade, keine Fairness, keine Menschlichkeit, nichts. Glaubt mir das bitte!“

Die Mädchen nicken verunsichert.

„Ach ja, und mich kennt ihr am besten auch nicht.“

„Und wenn wir uns auf der Straße treffen?“

„ … dürft ihr mich diskret grüßen.“

Er lacht freundlich. Vera und Marlene können nicht einschätzen, ob er es ernst meint oder nicht. Dann verabschiedet er sich. Sein halbes Bier lässt er stehen.

Vera und Marlene sagen auf dem Heimweg lange nichts. Dann beginnt Vera: „Und? Was denkst du?“

„Dass du die coolste Frau der Welt bist, die ich je erlebt habe. ‚Ihr könnt vielleicht nicht alles verstehen, weil ihr eben nicht alles wisst.‘ Ich dachte, ich muss sterben.“

„Wieso?“

„Weil das einfach hammergeil war. So, als ob du das schon tausendmal gemacht hättest.“

„Danke!“ Vera errötet, was selten passiert.

„Aber du warst auch nicht schlecht, als Piratenkönigin.“

Vera äfft Marlene nach, als ob sie mit einem Degen fechten würde.

Die beiden lachen sich schief.

„Und was machen wir jetzt?“, fragt Vera.

„Wir gehen jetzt erst einmal in ein Internetcafé und legen uns eine saubere Mailadresse zu!“